Das Ökonomie-Verständnis im rfu Nachhaltigkeitsrating
Die Säule Ökonomie stellt nach Sozialem und Ökologie die letzte der drei Säulen des rfu Nachhaltigkeitsratings für Staaten dar. Die Rolle, die dem Staat bzw. der Volkswirtschaft zugeschrieben wird, weicht dabei bewusst von einem Ökonomie-Verständnis ab, welches die monetäre Quantität an produzierten Gütern und Dienstleistungen oder volkswirtschaftliches Einkommen in den Vordergrund rückt. Ein Vergleich des rfu Ökonomie-Rating mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) soll einen Aufschluss über Zusammenhänge und Nicht-Zusammenhängendes liefern.
Die Grenzen des BIP
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist nach wie vor Bestandteil vieler Ansätze, welche versuchen, gesellschaftlichen Fortschritt aber auch Nachhaltigkeit zu quantifizieren (wie z.B. die Sustainable Development Goals). Gleichzeitig teilen in Zeiten von Klima- und Biodiversitätskrise sowie sozialer Ungleichheit wichtige Institutionen wie das IPCC, die OECD und die Europäische Union die Erkenntnis, dass das BIP nur sehr unzureichend den gesellschaftlichen Erfolg wirtschaftlichen Tuns widerspiegelt. Im Gegenteil - starke negative Umweltauswirkungen sind eng gekoppelt an die Wirtschaftsleistung und Zusammenhänge teilweise recht komplex.
Drei wichtige Kritikpunkte wollen wir beispielhaft hervorheben: Das BIP berücksichtigt nicht die Verteilung des Wohlstands innerhalb einer Gesellschaft. Ein hohes Pro-Kopf-BIP ist nicht gleichzusetzen mit einer gerechten Verteilung der Ressourcen oder einem verbesserten Lebensstandard für alle Bürger*innen. Darüber hinaus lässt das BIP die Erschöpfung natürlicher Ressourcen und die Zerstörung von Ökosystemen außer Acht. Wirtschaftliche Aktivitäten, die der Umwelt schaden, wie Abholzung, Umweltverschmutzung und die Zerstörung von Lebensräumen können sich sogar positiv auswirken. Schließlich scheint im BIP der Faktor unbezahlte Arbeit, wie Pflege, Freiwilligenarbeit und gemeinnützige Arbeit, die für das gesellschaftliche Wohlergehen unerlässlich sind, nicht auf. Ihr Wert wird jedoch auf bis zu 40 Prozent des BIP in einzelnen Volkswirtschaften geschätzt.
Die Versorgungsleistung steht im Vordergrund
Im Kontext von nachhaltiger Entwicklung begreifen wir im rfu Ländermodell Ökonomie als gesellschaftliches Bereitstellungssystem von Gütern, Dienstleistungen, Infrastrukturen und institutionellen Rahmenbedingungen zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse. Wirtschaft wird dabei nicht als ein in sich geschlossenes System betrachtet, sondern ist eingebettet in die Ökosphäre und gesteuert durch komplexe soziale Systeme. Als Ziel gilt nicht das Wachstum der Wirtschaftsleistung, sondern - ähnlich wie im Konzept der Doughnut-Ökonomie von Kate Raworth definiert - das Erfüllen gesellschaftlicher Bedürfnisse innerhalb planetarer Grenzen. Staaten und Volkswirtschaften kommen hier in eine aktive Sorgfaltspflicht.
Im Ökonomie-Rating versuchen wir die Qualität der Wirtschaft als Bereitstellungssystem abzubilden. Entlang der sieben Bedürfniskategorien, ident zu jenen der Säule Soziales, kommen hier mehr als 60 Indikatoren zur Anwendung (siehe nachstehende Grafik). Neben konventionellen Indikatoren für Grundversorgung (z.B.: Zugang zu Elektrizität oder Gesundheitswesen) und demokratische Stabilität (z.B.: Worldwide Government Indicators der Weltbank) werden Indikatoren zu Einkommens- und Vermögensungleichheit sowie nachhaltigkeitsbezogene ökonomische Risiken (z.B.: „Stranded Assets“) integriert. Umweltauswirkungen werden mit dem Erfolg, gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen, verglichen. Diese Ratios geben Auskunft über die Effektivität der Versorgungssysteme hinsichtlich der Einhaltung planetarer Grenzen.
Die Ergebnisse – rfu Ökonomie Rating im Vergleich mit BIP
Um obige Diskussion rund um unterschiedliche Ökonomie-Verständnisse konkreter zu veranschaulichen haben wir das Ökonomie-Rating des rfu Ländermodelles mit dem BIP pro Kopf verglichen (siehe Grafik 2). Staaten mit niedriger volkswirtschaftlicher Aktivität pro Kopf weisen breit gefächerte Ratings auf, jedoch durchwegs im negativen Bereich. Erst bei über 5.500 $ pro Kopf erzielen Staaten positive Ratings. Ab in etwa 25.000 $ pro Kopf scheinen Staaten ihre höheren volkswirtschaftlichen Leistungen kaum noch in ein besseres Ökonomie-Ratings übersetzen zu können. Wir wollen uns einzelne Cluster detaillierter ansehen.
Skandinavien wieder ganz vorne
Spitzenreiter in der Bereitstellungsleistung sind - wenig überraschend - skandinavische Staaten, Österreich, die Niederlande, Irland und die Schweiz. Diese Staaten zeichnen sich durch besonders hohe Werte im vielen Bereichen aus, vor allem der Qualität und Reichweite der Sozialversicherung und des Gesundheitswesens, dem Zugang zu wesentlichen Dienstleistungen (u.a. Wasser & Abwasser, Strom) sowie ein funktionierendes Staatswesen. Was diese Staaten auf der negativen Seite eint, ist eine relative geringe Ressourceneffektivität in Bezug auf das Ausmaß an ökologischen Ressourcen das notwendig ist zur Befriedigung gesellschaftlicher Bedürfnisse.
„Failed States“
Eine Reihe von Staaten zeichnen sich durch ein in Relation niedriges Ökonomie-Ratings in Relation zu ihrem BIP aus. Dies sind insbesondere fossile Energieträger exportierende Staaten wie Kuwait, die Vereinten Arabischen Emirate, Qatar und die USA, aber auch Israel und Singapur. Hohe Ungleichheit, schlechte Arbeitsbedingungen und eine geringe Ressourceneffektivität in Bezug auf die Befriedigung der Einwohner*innen sind die Merkmale. Die USA und Israel fallen weiters durch ein negatives Rating im Bereich Sicherheit auf.
Große Unterschiede auf der negativen Achse
Stabile Versorgungsysteme zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse sind abhängig von der Verfügbarkeit finanzieller Ressourcen. Dies zeigt sich an den negativen Ratings von Staaten mit einem BIP unter 5.500$ pro Kopf. Hier findet sich eine Vielzahl an Staaten, vor allem aus dem Globalen Süden. Hier sind die finanziellen Mittel zu gering, um stabile Versorgungssysteme zu implementieren und aufrecht zu erhalten. Die Bandbreite der Ergebnisse ist jedoch hoch. Staaten wie die Kap Verde, Nepal oder Ecuador schneiden aus recht unterschiedlichen Gründen vergleichsweise gut ab. Gegen Ende der negativen Skala finden sich autoritärer Staaten mit hoher Kriminalität oder militärischen Auseinandersetzung und dysfunktionalen Grundversorgungssystemen (z.B.; Iran, Nigeria oder Sudan). Der Anstieg der Wirtschaftsleistung hier ist noch mit einem großen Potenzial zur Steigerung des allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstands verbunden.
Unerwartete Länder mit hoher ökonomischer Effektivität
Schon nicht weit über dem global durchschnittlichen BIP von grob 12.600 $ pro Kopf finden sich bereits mehrere Staaten, die gute Ergebnisse im rfu Ökonomie Rating erzielen. Interessanterweise handelt es sich hierbei um Staaten, die v.a. medial selten für zukunftstaugliches Wirtschaften gelobt werden: das sind süd- und osteuropäische sowie latein-amerikanische Länder. So erzielen Uruguay, Portugal oder Kroatien bessere Ratings als einzelne Staaten mit deutlich höherem BIP pro Kopf wie beispielweise Frankreich, Kanada und Australien. Bei Letzteren gibt es hinsichtlich der schwächeren Bereiche parallelen zu den vorhin angeführten „Failed States“.
Fazit
Während zu Beginn der Anstieg der volkswirtschaftlichen Leistung wichtige Impulse für die Versorgungsqualität setzen kann, zeigt unser Vergleich, dass ab einer bestimmten Höhe keine signifikante Steigerung erkennbar ist. Wenn Nachhaltigkeit in den Fokus gerückt wird, ist die Aussagekraft des BIP als Zielkennzahl stark eingeschränkt. Vor allen jene Aspekte, die das BIP nicht zu messen vermag, spielen eine wichtige Rolle: Verteilung, Arbeitsbedingungen und ökologische Effektivität. Ein auf Wachstum ausgerichtetes Verständnis von Wirtschaft führt dazu, dass im Rahmen von strukturellen Anpassungen Staaten jene Bereiche der Wirtschaft zurückbauen, die der Befriedigung von Grundbedürfnissen und der Verminderung von Ungleichheit dienen. Nicht die immer weitere Wachstum der Wirtschaft scheint zu hohen gesellschaftlichen Wohlergehen zu führen, sondern die Nutzung von vorhanden Ressourcen für den Ausbau stabiler Versorgungsstrukturen und die Verringerung von Ungleichheit.
Christian Loy, Head of Research und Lisette von Maltzahn, Analystin, rfu.
Über die rfu:
Die rfu, mit Sitz in Wien, ist Österreichs Spezialistin für Nachhaltiges Investment und Management und unterstützt institutionelle Kunden mit Nachhaltigkeits-Research und der Konzeption von Investmentprodukten. „Technologisches Herz" sind die rfu Nachhaltigkeitsmodelle für Unternehmen, Länder und Rohstoffe.
Weitere Leistungen sind u.a. die Erstellung von Prüfgutachten nach dem Österreichischen Umweltzeichen sowie Second Party Opinions zur Emission von Green und Social Bonds.
Weitere Informationen finden Sie auf www.rfu.at
Über die Artikelserie "GOING GREEN":
GOING GREEN ist eine monatliche Kolumne auf e-fundresearch.com zu Entwicklungen und Hintergründen im nachhaltigen Investment, verfasst von Reinhard Friesenbichler und seinen Kolleginnen und Kollegen aus der rfu.