Bei der französischen Präsidentschaftswahl geht es in erster Linie um die zukünftige Positionierung Frankreichs in Europa

Ein Kommentar von Philippe Waechter, Chefvolkswirt bei Natixis Asset Management: Natixis Investment Managers | 05.05.2017 12:08 Uhr
Philippe Waechter, Chefvolkswirt, Natixis Asset Management / ©  Natixis
Philippe Waechter, Chefvolkswirt, Natixis Asset Management / © Natixis
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"Bei der französischen Präsidentschaftswahl stehen die Wähler im Endeffekt vor der politischen Entscheidung, welche Rolle Frankreich in Zukunft spielen soll. Im ersten Wahlgang wurde deutlich, dass die Franzosen mit dem aktuellen Bild von Frankreich nicht mehr zufrieden sind. So haben es die traditionellen Regierungsparteien gar nicht erst in den zweiten Wahlgang geschafft. Es scheint sich also wirklich grundsätzlich etwas ändern zu müssen. Außerdem besteht seitens der Bevölkerung offenbar der Wunsch, die Zukunft der französischen Gesellschaft mitzubestimmen. Diese Unzufriedenheit dürfte sich auch in der Entscheidung der Wähler für oder gegen Europa zeigen – eine Entscheidung, die allen anderen Überlegungen der Wähler übergeordnet ist. Deshalb lassen sich Wahlprogramme nicht vergleichen, wenn darin die Frage der Mitgliedschaft innerhalb Europas nicht geklärt ist. Aus diesem Grund enthalten die Programme der Kandidaten auch keine konkreten wirtschaftlichen Aspekte, da diese für die Wahlentscheidung letztlich nicht ausschlaggebend sind. Deshalb wurde seit Beginn des Wahlkampfs auch kaum über wirtschaftliche Fragen gesprochen. Stattdessen haben sich die Kandidaten hauptsächlich auf die Frage der zukünftigen Positionierung des Landes konzentriert.

Dass politische Aspekte die wirtschaftlichen Fragen überwiegen, ließ sich zuletzt auch bei der US-Präsidentschaftswahl sowie beim britischen Brexit-Referendum beobachten. Die Befürworter eines Verbleibs in der EU verwiesen im Wesentlichen auf die wirtschaftlichen Konsequenzen des Brexit, während das Austrittslager über das Vereinigte Königreich, seine Bevölkerung sowie dessen Rolle in der Welt sprach. Bei der US-Präsidentschaftswahl lief das ähnlich. So zog Donald Trump nicht wegen seines Wirtschaftsprogramms ins Weiße Haus ein. Es war vielmehr seine politische Vision der USA – einem Land, das es allein mit dem Rest der Welt aufnehmen kann, die Donald Trump den Wahlsieg bescherte. Diese Umstände sollten uns innehalten und nachdenken und unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf die wirtschaftliche Lage richten lassen.

Was die politische Dimension der französischen Präsidentschaftswahl betrifft, so geht es um nicht weniger als um die Beziehungen dieses Landes zu Europa. In dieser Frage unterscheiden sich die beiden Kandidaten im zweiten Wahlgang am deutlichsten voneinander. Die politische Natur dieser Entscheidung sowie die Art und Weise, wie sie auch die „Steuerung des Staatshaushalts“ beeinflusst, tritt klar zutage. So möchte der eine Kandidat die Beziehungen intensivieren und die europäischen Institutionen stärken, indem er die Kräfte Frankreichs und Deutschlands zu einer deutsch-französischen Allianz bündelt, die das Fundament der zukünftigen Entwicklung in Europa bilden soll. Die andere Kandidatin hingegen macht Europa für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme Frankreichs verantwortlich und möchte die europäischen Verträge im Sinne Frankreichs neu verhandeln. Außerdem plädiert sie für ein Referendum über einen Austritt aus den europäischen Institutionen, falls diese Neuverhandlungen scheitern sollten. Dies hätte dann die Einführung einer neuen französischen Währung zur Folge. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Programminhalten könnten nicht größer sein. Und in diesen beiden Visionen zum Platz Frankreichs in der Welt spiegeln sich auch die sehr unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen für dieses Land und damit zwei völlig konträre politische Ansätze wider.

Emmanuel Macron steht für Offenheit und Toleranz gegenüber der Welt und deren globaler Dimension. Dieser Herausforderung wird sich Frankreich zwangsläufig stellen müssen. Nur so kann das Land erneut zu Wohlstand gelangen, so dass jedes Mitglied der Gesellschaft in der Lage ist, sich an eine sich verändernde Welt anzupassen. Auf diese Weise kann Frankreich seinen Platz in der Welt wiedererlangen und die Geschichte in Zukunft wieder mitgestalten. Gleichzeitig ist er bestrebt, die Wirtschaft wieder ans Laufen zu bringen, damit sie mögliche Schocks absorbieren und sich schnell erholen kann, um so Arbeitsplätze zu schaffen. Dies bedarf jedoch beträchtlicher Anstrengungen, um die erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit jeder französische Bürger einen Zugang zu den notwendigen Ressourcen erhält, damit er auch wirklich zur Entwicklung des Landes beitragen kann. Jeder Franzose hat in dieser neuen Bewegung also eine Aufgabe zu übernehmen.

Aus europäischer Sicht sieht dieser Ansatz eine Intensivierung der Beziehungen sowie eine engere wechselseitige Abhängigkeit der einzelnen Länder voneinander vor. Bei der Entwicklung gemeinsamer Ideen, mit denen Europa seine Entscheidungen zukünftig unabhängig treffen kann, kann sich Frankreich auf seine Partner verlassen. Dieser auf Zusammenarbeit und Koordination beruhende Ansatz kann Frankreich letztlich die erforderliche Macht verleihen, um die Geschicke auch weltweit wieder beeinflussen zu können.

Im Gegensatz dazu spricht sich Marine Le Pen für Veränderungen bei den Beziehungen Frankreichs zu seinen europäischen Partnern aus. Dabei geht es insbesondere um eine Neuverhandlung der europäischen Verträge im Hinblick auf die Position Frankreichs innerhalb der entsprechenden Institutionen. Aber wer kann sich vorstellen, dass die europäischen Partner Frankreichs einen solchen Ansatz überhaupt akzeptieren würden? Falls die Beziehungen zu Europa nicht neu verhandelt werden können, würde die Kandidatin ein Referendum über einen Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union und damit auch aus dem Euroraum auf den Weg bringen. Dann müsste ein neues Währungssystem entwickelt werden. Und genau in diesem Punkt unterscheidet sich ein möglicher „Frexit“ vom Brexit, der sich ja zurzeit in Großbritannien vollzieht. Durch die Währungsfrage würde das Ganze noch komplizierter und unsicherer werden, so dass in der französischen Bevölkerung massive Besorgnisse um die Lage des Landes aufkommen könnten. Die Einführung einer eigenen Währung sowie die Entscheidung, sich von den europäischen Institutionen abzuwenden, würde aber auch eine Regierungspolitik implizieren, die darauf abzielt, die Zusammenarbeit Frankreichs mit den übrigen europäischen Staaten sowie mit dem Rest der Welt zu reduzieren. Damit würde Frankreich auch weniger Wachstumsimpulse erhalten, was sich für die Beschäftigungslage als verheerend erweisen könnte.

Im ersten Szenario, dem Programm von Macron, besteht das Ziel darin, die Beziehungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten und insbesondere den Ländern des Euroraums zu intensivieren. In diesem Zusammenhang würden auch die wirtschaftlichen Beziehungen sowie die gegenseitige Abhängigkeit intensiviert werden. Aus wirtschaftlicher Sicht hat der Binnenmarkt die Entstehung enger Wertschöpfungsketten gefördert, indem Güter nicht mehr nur in Frankreich produziert werden, sondern Teil von Produktionsprozessen sind, die in anderen Staaten der Eurozone ablaufen. Dieses auf Wertschöpfungsketten basierende Wirtschaftssystem würde deshalb gestärkt werden, was langfristig für ein robustes Wirtschaftswachstum sorgen würde. Eine solche Anpassungsbereitschaft setzt allerdings auch ein hohes Aus- und Weiterbildungsniveau sowie Investitionen voraus. Die Wirtschaft muss in der Lage sein, mit den unterschiedlichen Verläufen eines Konjunkturzyklus fertigzuwerden. Eine Entscheidung für Europa erfordert also zwar Anstrengungen, kann aber auch den Weg für ein dauerhaftes und nachhaltiges Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum bereiten.

Die Versuchung, Frankreich nach außen abzuschotten, könnte diese Wertschöpfungsketten unterbrechen, so dass das Land daran in Zukunft nur noch in geringerem Maße teilhaben könnte. Italienische, deutsche oder spanische Unternehmen würden andere Wege finden, ihre Güter auch ohne Frankreich zu produzieren, zumal sie wegen der Unsicherheit um die neue Währun, die auch nicht umgehend eingeführt werden würde, überhaupt keine Veranlassung hätten, Frankreich einzubeziehen. Gleichzeitig wäre es illusorisch anzunehmen, dass Frankreich alle benötigten Güter selbst herstellen könnte. Das produzierende Gewerbe Frankreichs ist mehr denn je auf andere Länder angewiesen.

Hinter dieser nach innen gerichteten Sichtweise steht die etwas rosige und nostalgische Erinnerung an die drei Boom-Jahrzehnte Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1950er und 1960er Jahren war das Wirtschaftswachstum Frankreichs robust und lag im Durchschnitt bei deutlich über 5%. Darüber hinaus herrschte im Land Vollbeschäftigung, während die Wirtschaft recht gut abgeschottet und bei der Herstellung von Gütern eigenständiger war. So betrafen die Wertschöpfungsketten im Wesentlichen französische Unternehmen. Doch die Welt hat sich verändert, und Frankreich ist mittlerweile nicht mehr in der Lage, alle benötigten Güter und Komponenten selbst zu produzieren. Das ist eine Tatsache. Eine Schwächung der Beziehungen zu den übrigen europäischen Ländern, von der hier die Rede ist, fußt auf dem Wunsch, zu einem System zurückzukehren, das nach Einschätzung einiger in der Vergangenheit funktioniert hat. Damals waren ja auch die Fabriken noch voller Arbeiter. Dann aber kam der technologische Fortschritt, und die Arbeitsplätze in der Industrie fielen weg. Diese Nostalgie möchte den Wählern in erster Linie das Gefühl vermitteln, dass bei einer Schließung der Grenzen auch wieder massenhaft Arbeitsplätze in der französischen Industrie entstehen würden. So funktioniert die Wirtschaft heutzutage aber nicht mehr, und es wäre falsch, das Gegenteil anzudeuten.

In den 1950er und 1960er Jahren war Frankreich außerdem nach Kräften bestrebt, die neuen europäischen Institutionen mit aufzubauen, um so den Ausbruch eines weiteren Krieges zu vermeiden. Dieser politische Antrieb, aus dem die französische Bevölkerung seinerzeit Hoffnung schöpfte, war ja auch der Grund für das kräftige Wachstum der Wirtschaft und der Beschäftigung in dieser Zeit. Die Nation stand voll und ganz hinter dem Ziel Europas, den Frieden zu wahren. Die derzeitigen Ambitionen, die Beziehungen zwischen den europäischen Ländern zu kappen, basieren auf der Auffassung, dass Frankreich auch aus eigener Kraft existieren und jene Ziele erreichen kann, die es zuvor nur mit Hilfe Europas realisieren konnte. In den 1960er Jahren hatte man sich noch Offenheit gegenüber anderen sowie einen Ausbau des Handels auf die Fahnen geschrieben. Diese Strategie hatte sich ausgezahlt und ist für den Wohlstand Europas und Frankreichs maßgeblich verantwortlich. Die Tendenzen in Frankreich, sich aus Europa zurückzuziehen, können gar nicht dieselben Impulse geben, weil das Land damit ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber seinen Handelspartnern und politischen Verbündeten schaffen würde. Hätte eine solche Situation denn überhaupt irgendwelche Vorteile? Sicherlich nicht.

Deshalb geht es bei dieser Wahl also letztlich um die Positionierung Frankreichs innerhalb Europas. Eine Entscheidung für Offenheit und eine Vertiefung der Beziehungen bedeutet, dass Frankreich die damit einhergehenden Herausforderungen meistern muss. Aus diesem Grund ist es unerlässlich, über die notwendigen Mittel zu verfügen, um in Bildung zu investieren. Jeder Franzose muss in der Lage sein, sich ein Leben lang weiterzubilden, damit er sich an sich verändernde Gegebenheiten anpassen oder Veränderungen auf wirtschaftlicher Ebene mittragen kann. Die Entscheidung für eine nationalistische Politik würde das Zusammenspiel Frankreichs mit dem Rest der Welt beeinträchtigen. Könnten wir eine solche Entscheidung, die das heutige Frankreich ebenso gefährden könnte wie das Land, das wir unseren Enkelkindern hinterlassen, überhaupt akzeptieren? Frankreich würde hinter die Weltwirtschaft zurückfallen – glauben wir wirklich, dass wir es auch alleine schaffen können?

Bei der Entscheidung, vor der die Wähler stehen, handelt es sich in erster Linie um eine politische: Richtet man seinen Blick nach außen und orientiert sich an anderen oder schottet man sich ab und bleibt für sich? Arbeitet man zusammen oder wird man Einzelkämpfer? Möchte man die Geschicke der Welt beeinflussen oder letztlich das Nachsehen haben – abgeschrieben vom Rest der Welt?"

Philippe Waechter, Chefvolkswirt, Natixis Asset Management

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