Europa wird amerikanisiert – und das nicht zum Guten

Natixis Investment Managers | 03.06.2025 07:55 Uhr
Philippe Waechter, Chefökonom bei Ostrum AM / © e-fundresearch.com / Ostrum AM
Philippe Waechter, Chefökonom bei Ostrum AM / © e-fundresearch.com / Ostrum AM

Der Klimawandel muss nach der Veröffentlichung der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Die Organisation weist darauf hin, dass 2024 das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen war – mit einer durchschnittlichen Temperatur von 1,6 °C über dem vorindustriellen Niveau. Diese Temperatur wird voraussichtlich bis 2029 zwischen 1,2 und 1,9 °C schwanken. Der seit Anfang der 1980er Jahre beobachtete Aufwärtstrend setzt sich ungebremst fort.

Die WMO schätzt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Temperatur von 2024 in mindestens einem der kommenden Jahre übertroffen wird, bei 80% liegt. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Durchschnitt über fünf Jahre hinweg 1,5 °C überschreitet, beträgt 70%. Vor einem Jahr lag sie noch bei 47%, vor zwei Jahren bei 32%.

Die seit Jahren beobachtete Klimaverschiebung verlangsamt sich nicht. Die Welt entkommt nicht der Verstärkung des Treibhauseffekts, die durch den Einsatz fossiler Energieträger bedingt ist. Der Verbrauch fossiler Brennstoffe bleibt hoch. Er treibt die CO₂-Emissionen an, verstärkt den Treibhauseffekt und verursacht die globale Erwärmung. Die CO₂-Emissionen werden 2024 erneut gestiegen sein, ebenso wie die CO₂-Konzentration, die 422,5 ppm erreicht. Die Energiewende kommt kaum voran. Erneuerbare Energien wachsen zwar, ersetzen aber fossile Brennstoffe nicht, sondern ergänzen sie.

Wie die WMO erklärt, wird diese Situation zu einer Zunahme klimatischer Ereignisse und zu erheblichen Auswirkungen auf die polare Vereisung führen, ebenso wie zu deutlich erhöhten Niederschlägen in Südasien und feuchteren Bedingungen in Nordeuropa. Es besteht kein Zweifel, dass diese tiefgreifenden Veränderungen die landwirtschaftlichen Produktionsbedingungen verschlechtern werden.

In der wissenschaftlichen Forschung gilt der Schwellenwert von 1,5 °C über dem vorindustriellen Niveau als jener, ab dem irreversible Effekte einsetzen. Und wir steuern mit lautem Hupen direkt darauf zu.

Gleichzeitig ziehen sich die USA aus dem Pariser Abkommen zurück, zerstören Klimadatenbanken und schränken die Fähigkeit von Institutionen ein, in diesem Bereich weiter zu forschen. Entscheidungen zugunsten fossiler Energien halten die Ölpreise niedrig und fördern den Verbrauch.

Diese Politik der Produktion um jeden Preis – auf Kosten des Klimas – wird von der neuen US-Regierung vorangetrieben und schwappt nach Europa über. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, trifft Europa zunehmend ähnliche Entscheidungen. Die Europäische Kommission ist dabei, die Anforderungen zur Erreichung des Klimaziels 2040 – eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 90% im Vergleich zu 1990 – abzusenken1.

Frankreich und Deutschland einigten sich außerdem darauf, die sogenannte CS3D-Sorgfaltspflicht, die nachhaltiges und verantwortungsvolles Verhalten von Unternehmen in globalen Lieferketten fördern soll, abzuschwächen2.

Europa bewegt sich in Richtung einer Politik der Produktion um jeden Preis – und das Klima bleibt auf der Strecke. Ein Teil des Draghi-Berichts wird dabei ignoriert.

Ein neues Wachstumsmodell in der Eurozone?

Das Wachstum eines Landes lässt sich auf drei Faktoren zurückführen: Erstens die Produktivität, gemessen an der Produktion pro Arbeitsplatz; zweitens die Beschäftigungsquote, also der Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung; und drittens das Bevölkerungswachstum. Daraus lässt sich der jeweilige Beitrag dieser Faktoren zum BIP-Wachstum berechnen. Diese Aufschlüsselung habe ich vor einigen Wochen vorgenommen, indem ich die Entwicklung des BIP pro Kopf – nicht des Gesamt-BIP – zwischen der Eurozone und den USA verglichen habe.

Diese Analyse erlaubt es, die Quellen des Wachstums klar zu identifizieren. Ein Anstieg der Beschäftigungsquote hat sofort spürbare Auswirkungen. Dieses Ziel verfolgt auch die französische Wirtschaftspolitik: Durch die Steigerung der Beschäftigungsquote wächst das BIP bei gleichbleibender Produktivität schneller.

Für eine gegebene Produktivität zeigt sich die große Bedeutung von Erwerbsquote und Bevölkerungswachstum. In diesen beiden Bereichen können sowohl Einheimische als auch Zuwanderer Beiträge leisten. In den USA sind Migrationsströme aus Lateinamerika und Asien seit langem eine wesentliche Erklärung für das dort höhere Wachstum im Vergleich zu Europa. Angesichts der neuen migrationspolitischen Ausrichtung stellt sich nun die Frage, ob dieses Wachstum in den USA aufrechterhalten werden kann.

In Europa war der Beitrag der Migration historisch begrenzter. Ihre Regulierung dient vielen Regierungen als politisches Steuerungsinstrument.

Ökonomen der Europäischen Zentralbank wollten hierzu mehr Klarheit schaffen. Ausgehend von der Beobachtung der abnehmenden Bevölkerungsdynamik in den großen Ländern der Eurozone und ihrer alternden Gesellschaften haben sie die Beiträge von Einheimischen und ausländischen Arbeitskräften zur Beschäftigung und zum Wachstum analysiert.

Im Zuge der Erholung nach der Pandemie – und bis ins Jahr 2024 hinein – ist der Beitrag ausländischer Arbeitskräfte zum BIP-Wachstum erheblich. Sie gleichen die geringeren Beiträge einheimischer Arbeitskräfte aus. In der Periode 2022–2024 machten die Beiträge ausländischer Arbeitskräfte teilweise fast die Hälfte des Wachstums in großen Euro-Ländern aus.

In der EZB-Studie wird betont, dass ausländische Arbeitskräfte seit der Covid-Zeit besser qualifiziert sind. Sie können somit mehr zum Wachstum beitragen und sind nicht mehr systematisch auf niedrig qualifizierte und schlecht bezahlte Tätigkeiten beschränkt.

Besonders stark ist der Beitrag in Spanien und Deutschland, etwas weniger in Frankreich. In Italien, wo das Wachstum kräftig ausfällt, ist der Beitrag ausländischer Arbeitskräfte hingegen gering – fast nicht vorhanden.

Das europäische Wachstumsmodell befindet sich im Wandel. Ohne den Beitrag ausländischer Arbeitskräfte wäre das Einkommenswachstum in der Eurozone deutlich schwächer ausgefallen – und das Problem der Staatsverschuldung hätte sich verschärft.

Ein starkes politisches Dilemma…

Von Philippe Waechter, Chefökonom bei Ostrum AM

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1 FT, 22. Mai

2 POLITICO, 20. Mai

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