Eyb & Wallwitz Chefsvolkswirt: Europa zwischen Erneuerung und Irrelevanz

Europa steht wirtschaftlich unter Druck, wie die heutigen schwachen Daten zur Industrieproduktion und den Exporten aus Deutschland zeigen, – aber genau darin liegt seine Chance. Während die USA und China um die globale Vorherrschaft ringen und zunehmend politischen Druck ausüben, kann sich die EU als stabiler, fairer und verlässlicher Partner neu positionieren. Doch dafür braucht es tiefgreifende Reformen im Inneren: einen Abbau der nationalen Egoismen, eine Wiederbelebung europäischer Visionen, gemeinschaftliche Investitionen und mehr Vertrauen in den Markt statt dysfunktionaler politischer Sparregeln. Der geopolitische Druck könnte genau der Anstoß sein, den Europa braucht, um sich aus der wirtschaftlichen Lethargie zu befreien – oder endgültig in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen, erklärt Dr. Johannes Mayr, Chefvolkswirt bei Eyb & Wallwitz. Eyb & Wallwitz | 07.08.2025 11:05 Uhr
Dr. Johannes Mayr, Chefvolkswirt bei Eyb & Wallwitz / © e-fundresearch.com / Eyb & Wallwitz
Dr. Johannes Mayr, Chefvolkswirt bei Eyb & Wallwitz / © e-fundresearch.com / Eyb & Wallwitz

Europa befindet sich an einem wirtschaftlichen und politischen Wendepunkt. Die vergangenen Jahre waren von wirtschaftlicher Schwäche und einer Underperformance geprägt – gegenüber der dynamischeren Volkswirtschaft der USA und dem strukturell geförderten Aufstieg Chinas hat der europäische Kontinent an ökonomischem Gewicht verloren. Das reale Wachstum stagniert, und vor allem die Industrie steht unter Druck, technologische Rückstände werden offensichtlicher, und die Kapitalmärkte zeigen sich fragmentiert. Doch gerade in dieser Ausgangslage liegt eine historische Chance – sofern die EU bereit ist, sich zusammenzuraufen und stärker als politische und wirtschaftliche Einheit zu agieren.

Rückblick: Ein Jahrzehnt der Stagnation

Die Finanzkrise 2008 und die darauffolgende Eurokrise haben Europa seine strukturellen Schwächen offengelegt, die bis heute nicht vollständig adressiert sind. Während die USA durch expansive Fiskalpolitik, aggressive Innovationsförderung und eine vertiefte Kapitalmarktkultur ihre ökonomische Basis verbreitert haben, verharrt Europa in regulatorischen Fesseln und institutioneller wie finanzieller Kleinteiligkeit. Investitionen in Infrastruktur, Technologie und Verteidigung blieben im internationalen Vergleich zurück, auch weil das Dogma fiskalischer Zurückhaltung – geprägt durch das Maastricht-Regelwerk – echte gemeinsame Investitionsimpulse verhindert.

Hinzu kommt der demografische Wandel, der die Wettbewerbsfähigkeit Europas in besonderem Maße bedroht. Alternde Gesellschaften und der resultierende Schwund an Innovationskraft tragen zum schleichenden Produktivitätsverlust bei, der kaum durch Zuwanderung oder Digitalisierung kompensiert wird. All dies schlug sich auch in der Kapitalmarktentwicklung nieder: Europäische Kapitalmärkte verloren an Relevanz, während immer mehr Vermögen und Risikokapital in Richtung USA oder asiatischer Wachstumsregionen abwanderte.

Der geopolitische Druck als Chance

Nun verschieben sich aber die geopolitischen Verhältnisse und damit die Rahmenbedingungen: Die politische und ökonomische Verlässlichkeit der USA wird zunehmend in Frage gestellt und die wirtschaftliche Rivalität zwischen den USA und China ist zur strategischen Systemkonkurrenz geworden. Diese neue Bipolarität zwingt Europa zur Neuorientierung. Denn die Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen und Exportmärkten ist ebenso riskant wie die Abhängigkeit von amerikanischen Schlüsseltechnologien und die politische Verwundbarkeit durch die erratische Regierung in Washington. In diesem Spannungsfeld eröffnet sich für Europa eine Möglichkeit: Wenn es gelingt, sich als eigenständiger, verlässlicher und offener Wirtschaftsraum und Handelspartner zu positionieren, könnte die EU zum strategischen Brückenbauer werden – zwischen Systemkonkurrenz und Kooperationsinteresse. Außenwirtschaftlich die Alternative zu den protektionistischen Kursen der USA und Chinas. 

Dazu gehört aber auch, den inneren Reformstau aufzulösen. Der geopolitische Druck könnte dabei als Katalysator wirken, um lang blockierte Vorhaben wie die Kapitalmarktunion oder eine europäische Industriestrategie wiederzubeleben. Gerade im Bereich der Finanzierung großer Zukunftsprojekte – etwa in der Energiewende, der Verteidigung, der KI oder Halbleiterproduktion – ist gemeinschaftliches europäisches Handeln unabdingbar. Die Maastricht-Regeln, mit ihrem Fokus auf nationale Haushaltsdisziplin, erweisen sich dabei als strukturelles Hindernis. Notwendig ist eine Reform hin zu einem europäischen Investitionsrahmen, der nicht in alte Schuldendebatten verfällt, sondern strategisch gezielte Gemeinschaftsfinanzierungen ermöglicht. Und gleichzeitig den Markt- und Wettbewerbsmechanismen mehr Vertrauen schenkt.

Kapitalmarktunion und fiskalische Kooperation: Jetzt oder nie

Europa muss und kann zum attraktiven Ziel für privates und institutionelles Kapital aus aller Welt werden. Dafür braucht es integrierte Finanzmärkte, harmonisierte Regulierungen, tiefere Liquiditätspools und am Ende auch eine stärkere Risikoteilung. Die Wiederbelebung der Kapitalmarktunion wäre dabei nicht nur ein Bekenntnis zu wirtschaftlicher Integration, sondern auch ein praktisches Instrument zur Finanzierung der wirtschaftlichen Transformation. Solange nationale Vorbehalte und politische Grabenkämpfe dominieren, bleibt Europa ein Flickenteppich – wenig attraktiv für globale Investoren und wenig durchsetzungsfähig im internationalen Wettbewerb. Die Ausgangslage ist dabei günstig wie lange nicht - mit den fiskalischen Impulsen in Deutschland und vor allem dem unverhofften Kapitalzufluss aus dem Ausland durch die Trump-bedingte Reallokation der US-Dollar Reserven internationaler institutioneller Investoren. Diesen Rückenwind gilt es jetzt zu nutzen.

Fazit: Entweder handlungsfähig oder irrelevant

Europa ist wirtschaftlich stabil, technologisch nicht chancenlos und gesellschaftlich resilient. Doch diese Position kann nur gehalten und ausgebaut werden, wenn jetzt paralleles Handeln auf mehreren Ebenen erfolgt: Reduktion strategischer Abhängigkeiten, Offenheit im Handel und für Kapital, institutionelle Reformen und gemeinschaftliche Investitionsmechanismen.

Wenn es der EU gelingt, die außenpolitischen Herausforderungen als inneren Reformmotor zu nutzen, kann sie sich als dritter Pol zwischen den USA und China etablieren – als weltoffener, regelbasierter und wirtschaftlich eigenständiger Partner. Gelingt das nicht, droht Europa, zwischen den Machtblöcken zerrieben zu werden oder in eine neue Form wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Abhängigkeit zu geraten.

Die Frage ist nicht mehr, ob Europa handeln muss. Die Frage ist, ob es dazu bereit ist, als disziplinierte Einheit aufzutreten und Reformen mit dem notwendigen Ehrgeiz anzugehen - und so das aktuelle Möglichkeitenfenster zu nutzen.  

Von Dr. Johannes Mayr, Chefvolkswirt bei Eyb & Wallwitz

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